Über Zwecke und Ziele kommunalen Handelns

Ein Essay von Simon Jarke basierend auf der Arbeit von Gerald Hüther.

Das innere Band

Eine Kommune braucht Ziel und Kompass. Ohne diese wirken Entscheidungen von Verwaltung und Gremien oft willkürlich und z.T. widersprüchlich. Manche werden antworten, natürlich habe eine Kommune wie Heddesheim Ziele, und werden dutzende Punkte nennen können, allesamt sicherlich wichtige Punkte. Aber oft sind diese Aufzählungen unzusammenhängend, inkonsistent, unvollständig, subjektiv.

Besser wäre eine grundlegende Erzählung, ein konzeptionelles Fundament, aus dem sich Ziele für die mannigfaltigen Aktivitäten einer Kommune ableiten lassen. Ein Basiszweck sozusagen, der handlungsleitend ist. Ein gemeinsamer Geist. Ein inneres Band.

Jede menschliche Gemeinschaft braucht ein inneres Band, etwas, was die Mitglieder der Gemeinschaft zusammenhält. Geht dieses Band verloren, zerfällt die Gemeinschaft in eine Ansammlung von Einzelpersonen. Der gemeinsame Geist ist verloren.

In diesem Essay werde ich versuchen darzustellen, was dieses Band in der Vergangenheit war. Warum ich glaube, dass das Band in den letzten Jahrzehnten schwächer geworden ist und was wir gemeinsam tun können, um es in Zukunft wieder zu stärken. Ich glaube, diese Erzählung kann die notwendige Basis sein, aus der sich ein neuer Nordstern des kommunalen Handels entwickeln könnte. Ein strategischer Rahmen zur mutigen Gestaltung der Zukunft vor Ort. Aber schauen wir zunächst zurück.

Der Ort als Problembewältigungsgemeinschaft

Ein Blick zurück in unsere Vergangenheit lässt wie so oft klarer sehen: Über viele Jahrhunderte war das Leben in Heddesheim hart und entbehrungsreich. Menschengemachte Bedrohungen von außen, wie Überfälle, Krieg und Terror, waren über viele Jahrhunderte regelmäßige Ereignisse. Aber auch die nicht-mechanisierte Landwirtschaft oder natürliche Bedrohungen, wie Naturkatastrophen, Missernten oder Seuchen hielten viele Probleme bereit. Diese Probleme konnten oft nur gemeinsam bewältigt werden. Der Tabakanbau beispielsweise benötigte stets sehr viele Hände. Nur durch den Einsatz vieler Helfer – von jung bis alt – konnte Anbau und Verarbeitung gelingen. Ein anderes Beispiel ist die Entwässerung der seinerzeit morastigen Böden im Norden Heddesheims. Das Herstellen und Unterhalten von Entwässerungsgräben war ein Unterfangen, bei dem das ganze Dorf helfen musste. Es lassen sich viele weitere Beispiele finden, von Landgewinnung, Rodungen und Urbarmachung, Schutz vor Frost, Eis und Schnee oder Sicherung der Wasserversorgung.

All diese Probleme mussten gelöst werden. Das war seinerzeit der Zweck der Gemeinschaft vor Ort. Nur gemeinsam mit vielen anderen war das Überleben möglich. So entstand eine Problembewältigungsgemeinschaft.

Die Menschen waren zunehmend voneinander abhängig und profitierten wechselseitig voneinander und rückten deshalb räumlich immer näher zusammen. Eine zunehmende Spezialisierung der Arbeit verstärkte diesen Effekt weiter: Spezielle Kenntnisse und Fertigkeiten, die zur Ausübung von bestimmten Tätigkeiten benötigt wurden, führten zu mehr Arbeitsteilung. Spezialisten wurden von anderen gebraucht und brauchten gleichzeitig selbst wieder andere, die auf weiteren Gebieten spezielle Fähigkeiten entwickelt hatten. Ob Handwerker, Landwirte oder Kaufleute – ein feines Netz der Zusammenarbeit entstand.

In diesen Problembewätligungsgemeinschaften war das Zusammenleben zweckbestimmt und diente der gemeinsamen Lösung der gemeinsamen Probleme. Vorschriften, Gesetze und Verwaltungsstrukturen entstanden, um das Zusammenleben und Zusammenwirken der dörflichen Gemeinschaft zu regeln. Verantwortungsbereiche entstanden, es kam zur Herausbildung von Hierarchien sowie von Macht- und Einflussgefällen innerhalb der Gemeinde.

Je größer die Not, desto straffer musste die Aufgabenverteilung organisiert werden. Jeder erlebte sich als kleines Rädchen in einem Getriebe, das die Bewältigung des Lebens bestimmte. Missachtung der Regeln führe nicht selten zum Ausschluss aus der Gemeinschaft – oft empfunden als schlimmer als der Tod. Das führte zu einem enormen Anpassungsdruck an einzelne Menschen oder Familien. Jede und jeder hatte seine festgelegten Aufgaben und bestimmte Zwecke zu erfüllen. Eine Änderung der Rolle war praktisch unmöglich, ein Landwirt blieb ein Landwirt, ein Schmied ein Schmied und ein Zimmermann ein Zimmermann. Meist wurden diese Rollen an die Kinder vererbt und blieben so über lange Zeit gleich. So konnte natürlich niemand ein anderes Selbstverständnis und Selbstbild herausbilden. Von klein auf hatte sich jeder in das zu fügen, was ja ohnehin nicht zu ändern war. Ohne die familiäre und örtliche Gemeinschaft, war der Einzelne verloren.

Auf der anderen Seite hatte so jede und jeder Einzelne das Gefühl dazuzugehören und einen bestimmten Platz in der örtlichen Gesellschaft zu haben. Das eigene Tun war bedeutsam für andere. Die Freiheitsgrade waren gering, es gab aber auch kaum einen Grund, sie einzufordern. Das Leben war zwar hart, aber überschaubar und übersichtlich. Die gegenseitige Abhängigkeit führte zu einer tiefen inneren Verbundenheit, die dabei half, auch neue Probleme und Herausforderungen zu meistern.

Es wäre vielleicht ewig so weitergegangen, wenn nicht der Mensch in der Lage wäre, etwas hervorzubringen, was seit jeher stetigen Wandel erzeugt: technologischer Fortschritt. Die Mechanisierung der Landwirtschaft und synthetische Dünger haben z.B. dazu geführt, dass viel weniger Menschen in der Landwirtschaft notwendig waren, um den gleichen Ertrag zu erwirtschaften. Kleine Handwerksbetriebe wurden zunächst von größeren Manufakturen und dann von großen Fabriken abgelöst, wodurch mehr Güter in weniger Zeit hergestellt werden konnten. Dampfmaschine und Elektromotor machten die Menschheit weniger abhängig von der eigenen Körperkraft. All das führte dazu, dass das feine Netz der örtlichen Wertschöpfung und Abhängigkeit über die Jahre verschwunden ist. Und mit diesem Wandel änderte sich auch die Beziehungskultur vor Ort.

Der Ort als Besitzstandswahrungsgemeinschaft

Nachdem lange die innere Struktur und Organisation im Ort auf die Bewältigung der gemeinsamen Probleme ausgerichtet war, führt nun technologischer Fortschritt dazu, dass diese Probleme immer besser gelöst werden können. Und irgendwann – Schritt für Schritt – ist das, was bisher ein Problem war, irgendwann keines mehr. Das Leben im Ort wird leichter. Es werden zunehmend Ressourcen frei, die bisher in die Problembewältigung geflossen sind. Der Besitzstand, das materielle Hab und Gut der Gemeinschaft und ihrer Mitglieder vermehrt sich.

Plötzlich änderte sich langsam aber stetig der Zweck des Zusammenlebens: Von der Bewältigung von meist von außen kommenden Problemen bis zu Bewahrung von Besitzständen. War man bisher froh, irgendwie gemeinsam zu überleben, begeistert man sich nun dafür, all das festzuhalten und festzuschreiben, durch Regeln und Gesetze, durch Vorschriften und Erlasse zu bewahren, was einem gehört, sowohl der ganzen Kommune als auch ihren einzelnen Mitgliedern. Aber nicht nur das Materielle gewinnt an Bedeutung und muss bewahrt werden, sondern auch all das, was vermeidlich entscheidend dazu geführt hat, dass die Besitztümer entstanden sind: Regeln und Vorschriften, Verwaltungsstrukturen und Organisationsformen, aber auch gemeinsame Ideen und Vorstellungen, die inneren Einstellungen und Haltungen, mit denen die Kommune und ihre Mitglieder diesen Wohlstand geschaffen haben.

Auch diese geistigen Werte sind nun auf einmal Besitztümer, die es zu bewahren gilt, oft sogar vehementer als Haus und Hof. Nun geht es nicht selten um die Sicherung von Positionen statt um die Lösung gemeinsamer Probleme. Diese Art von Beziehungsgestaltung gilt nicht nur für ganze Kommunen, sondern auch für ihre einzelnen Mitglieder und deren Familien. Je größer der Besitzstand, desto stärker die Bemühungen, ihn zu waren.

Die Menschen machen dann oft die Erfahrung, dass es offenbar wichtiger ist, seine eigene Position zu bewahren, als gemeinsam irgendwelche Probleme zu lösen. Aus dieser Erfahrung wird leicht eine feste innere Einstellung und Haltung, eine Haltung von Besitzstandswahrern, die zwangsläufig die Art der Beziehung zu anderen bestimmt. Die Menschen verlieren ihre angeborene Offenheit, versuchen sich durch Abwertung anderer selbst zu stärken und passen ständig auf, dass ihnen nichts weggenommen wird. Mit Andersdenkenden wollen sie nichts zu tun haben; sie versammeln sich in Gruppen Gleichgesinnter und versuchen festzuhalten und zu sichern, was sie für wichtig halten. Festhalten an dem, was sie haben, wird wichtiger als die Entfaltung all dessen, was aus ihnen werden könnte. Wenn sie die Kultur vor Ort bestimmen, verliert die ganze Gemeinschaft ihre Lebendigkeit. Sie wird zu einer Besitzstandswahrungsgemeinschaft. Plötzlich wird Besitzstandswahrung Ziel und Zweck der Kommune. Regeln, Vorschriften und Verwaltungsstrukturen entstehen, um die individuellen und kollektiven Besitzstände zu sichern und zu mehren. Veränderung findet statt, aber stets nach dem Motto „noch mehr vom Alten“ – mehr Bequemlichkeit bzw. „Lebensqualität“ oder mehr räumliche Ausdehnung durch Neubaugebiete. Erreicht wird, dass das Dorf immer schöner wird, ein immer bequemeres Leben bietet oder auch immer wohlhabender wird.

Dieses Streben nach Besitzstandswahrung hat jedoch einen entscheidenden Nachteil: Es begünstig nur solche Veränderungen, die diesem Zweck dienen. Wenn sich aber Erwartungen, Wünsche und Bedürfnisse der Menschen vor Ort ändern oder sich die Verhältnisse in der Welt wandeln, reichen diese Veränderungen nicht mehr aus. So weiterzumachen wie bisher, nur noch besser, noch effizienter, noch wirksamer, ist dann keine besonders zukunftsfähige Strategie. Sie wird sogar zu einer Gefahr, wenn sich die Welt außerhalb der Kommune so schnell verändert, wie das gegenwärtig der Fall ist. Wenn die Welt sich wandelt, wenn das Alte seinen Wert verliert und neue Erwartungen an das Leben gestellt werden, reicht es nicht mehr, wenn die Kommune all das, was sie bisher gemacht hat, einfach nur immer besser zu machen versucht. Dann müsste sie es anders machen.

Die Menschen spüren einen Mangel an Verbundenheit und Gemeinschaft vor Ort. Früher gab es mehr davon, hört man oft. Und tatsächlich war das der Fall, als das Zusammenleben noch Problembewältigungsgemeinschaft war. Dafür mangelte es früher an Freiheit und Selbstbestimmtheit des Einzelnen. Sein eigenes Leben selbst zu gestalten und nach der eigenen Fasson glücklich zu werden, war nur in den wenigsten Fällen möglich. Mehr Freiheit auf Kosten der Verbundenheit oder mehr Verbundenheit auf Kosten der Freiheit scheint das ausweglose Dilemma zu sein. Je stärker man mit anderen verbunden ist, desto mehr fühlt man sich dadurch in seiner Freiheit eingeschränkt. Und je freier und unabhängiger man sein Leben gestaltet, desto mehr verliert man die Verbundenheit mit anderen.

Können wir uns nicht gleichzeitig frei und verbunden fühlen? Die gute Nachricht: Ja, das geht! Und vermutlich hat es jeder von uns auch schon erspürt. Wir alle sind mit der Erfahrung auf die Welt gekommen, dass es möglich ist, gleichzeitig aufs Engste mit einem anderen Menschen verbunden und doch jeden Tag ein Stück über sich hinausgewachsen zu sein. In den ersten Monaten und Jahren unseres Lebens hilft uns die tiefe Verbundenheit mit unseren Eltern mutig unser Potenzial zu entfalten.

Und auch umgekehrt, mit unseren eigenen Kindern, Enkeln oder Menschen, die uns viel bedeuten, spüren wir, wie wir aus tiefer Verbundenheit die Freiheit ermöglichen, die ihnen hilft, ihre Stärken zu finden und auszuleben. Wie wir sie liebevoll unterstützen Dinge zu finden, die sie lieben und ihnen dabei helfen, sie zu meistern.

Der Ort als Potenzialentfaltungsgemeinschaft

Auf diese Erfahrung können wir zurückgreifen, um in der Kommune eine neue Beziehungskultur zu etablieren. Wir müssten einander einladen, ermutigen und inspirieren, nicht länger das festzuhalten, was wir haben, sondern wieder so zu werden, wie damals, als sich jeder von uns auf den Weg ins Leben gemacht hat: mutig, zuversichtlich, offen und vorurteilsfrei, voller Entdeckerfreude und Gestaltungslust, beziehungsfähig und begeistert über die Möglichkeiten, die das Leben bietet. Statt eifrige Besitzstandswahrer zu bleiben, müssen wir uns erneut in die lustvollen Selbstentwickler von einst zurückverwandeln.

Alle Menschen können sich gegenseitig dabei unterstützen, ihre Potenziale zu entfalten. Freuen wir uns, wenn andere ihre Potenziale entfalten. Ob als Sportler, Musiker, Autor, Schauspieler, Koch, Handwerker, Unternehmer oder in der Care-Arbeit. So wird der Ort Potenzialentfaltungsgemeinschaft.

Menschen brauchen immer beides: Freiheit und Verbundenheit mit anderen Menschen. Wenn wir uns das Leben in Heddesheim anschauen, kann man gut beobachten, wie die Freiheit immer weiter zugenommen hat. Das hat auch damit zu tun, dass bei uns lebensbedrohliche Probleme, deren Lösung früher das Zusammenwirken von vielen Menschen notwendig gemacht haben, immer weniger wurden. Zweifelsohne ist das eine gute Entwicklung. Die Menschen sind immer mehr in der Lage, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten.

Das mehr an Freiheit hat aber auch dazu geführt, dass das innere Band, das die Menschen im Ort verbunden hat, immer weniger spürbar wurde. Man lebt vielleicht am gleichen Fleck der Welt, aber sonst aneinander vorbei. Gibt es etwas, dass uns alle in Heddesheim verbindet, außer dass wir Tür an Tür wohnen? Es scheint, als ob man nur an sich und seinesgleichen denkt; Besitzstände – ob materiell und finanziell, ob immateriell wie Regeln, Vorschriften, Haltungen und Vorstellungen – scheinen das Wichtigste zu sein und werden mit Vehemenz verteidigt.

Freiheit und Verbundenheit

Die Menschen spüren den Mangel an Verbundenheit und Gemeinschaft. Was können wir tun, um die Verbundenheit wieder zu stärken ohne Freiheit aufzugeben? Wir müssen eine Potenzialentfaltungsgemeinschaft werden. Erreicht werden kann das durch die Schaffung von Gelegenheiten und Räumen für Begegnungen und Austausch, für gemeinsames Tun und Erleben, für gemeinsames Entdecken und Gestalten, und zwar nicht nur für bestimmte Schichten, Interessen oder Altersgruppen, sondern schichten- beziehungsweise herkunftsübergreifend, wie auch interessen- und altersübergreifend.

Wenn es um unsere Kinder geht, ist das schon heute erkennbar. Um die Potenziale der eigenen Kinder zu entfalten, haben sich schon heute rund um KiTa, Schule, Sport und Vereine lebendige Potenzialentfaltungsgemeinschaften entwickelt. Darauf kann man aufbauen.

Jeder in Heddesheim sollten also dabei unterstützt werden, zu entdecken, was es zu entdecken gibt, zu gestalten, was es zu gestalten gibt, und sich um all das zu kümmern, was ihr oder ihm am Herzen liegt. Begleitet werden sollten sie dabei von anderen Bürgerinnen und Bürgern inkl. derer in der Verwaltung, die über besondere Fähigkeiten und Fertigkeiten oder über spezielles Wissen verfügen und Freude daran haben, anderen dieses Wissen zur Verfügung zu stellen und ihnen mit ihren Kompetenzen bei der Umsetzung von Vorhaben zu Seite zu stehen.

All das wird das Gefühl der Zugehörigkeit und der Bedeutsamkeit aller Heddesheimerinnen und Heddesheimer stärken und als Nebeneffekt zwangsläufig zu einer Verbesserung von Verstehbarkeit, Gestaltbarkeit und Sinnhaftigkeit des kommunalen Zusammenlebens beitragen.

Das innere Band wird wieder stärker. Und genau das sollte Zweck und wichtigstes Ziel des kommunalen Handelns werden. In uns allen schlummern Potenziale, die es zu entfalten gilt. Jede und jeder Einzelne sollte seine Potenziale zum Wohle unserer Gemeinschaft entfalten dürfen. Denn dann gilt: Von allen das Beste.

Willst auch du ein Potenzialentwickler werden? Komm‘ auf uns zu!

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