Oma Emilie zieht weg

Es regnete … mal wieder.

Sie hatte schon tausende Male aus dem Fenster geschaut, wenn es regnete. Sie mochte den Regen, jedenfalls solange sie zuhause war. Was sie am Regen nie mochte war, dass sie dann ihren Mann nicht besuchen konnte. Und eigentlich besuchte sie ihren Georg fast täglich auf dem Friedhof –  und das über 25 Jahren lang. Sie stand dann an der Stelle, an der früher mal sein Grab war, und erinnerte sich an die wunderbare Zeit mit Georg in ihrem geliebten Heddesheim.

Im „Kaiser“ haben sie zum ersten Mal zusammen getanzt und sich ineinander verliebt. Der Krieg war gerade drei Jahre zu Ende, und Deutschland erhob sich ganz langsam wieder wie ein Phönix aus der Asche.

Doch Emilie war schon sehr lange nicht mehr auf dem Friedhof. Die engen Gehwege, der zunehmende Verkehr und die Autofahrer, die immer häufiger zum Ausweichen auf den Gehweg fuhren, machten ihr Angst. Sie sah nicht mehr gut, konnte nur noch kurze Strecken ohne Schmerzen laufen. Und sie hatte nie einen Führerschein gemacht. Wofür auch … in Heddesheim? Ihr „Kurpfalz“-Fahrrad hatte sie immer zuverlässig überall hingebracht. Aber seit ihrem Sturz vor zwölf Jahren hatte sie auch davor Angst. Also lief sie bis vor etwa zwei Jahren beinahe jeden Weg – sie hatte ja schließlich Zeit.

Der Alueda-Markt in der Oberdorfstraße entfernte sich gefühlt von Jahr zu Jahr immer mehr von daheim. „EDEKA“ nennen die den Alueda-Markt jetzt neuerdings. „Was für ein neumodischer Kram“, dachte sie. Sie ging, davon vollkommen unbeirrt, weiterhin in ihren „Alueda-Markt“. Auf dem Weg dahin gab es kaum Bänke, auf denen sie sich mal kurz ausruhen konnte. Den Beinen, die damals noch im „Kaiser“ getanzt hatten, war schon lange nicht mehr nach tanzen zumute. Sie hatten Mühe die Einkäufe zu tragen.

Zwei Jahre ist es jetzt her, dass sie das letzte Mal alleine zum Friedhof ging, denn seit einiger Zeit wusste Emilie ganz oft auch nicht mehr, wo sie ist. „Heddesheim hat sich verändert“, dachte sie. „Nichts steht mehr da, wo es früher stand.“ Manchmal glaubte sie, die machen das nur, um sie zu ärgern und verrückten immer wieder alles, damit sie den Weg nicht mehr fand… wie im Alueda-Markt, wo der Zucker auch nie lange an derselben Stelle stand. Verrückt!

„Oma?“, übertönte es die an das Fenster prasselnden Regentropfen. Emilie schenkte dem Ruf keine Beachtung. Zu sehr war sie in ihren Gedanken in Heddesheim unterwegs, damals 1953, als sie ihren Georg in der Evangelischen Kirche geheiratet hatte. An diesem Tag regnete es auch, vielleicht mag sie den Regen deswegen so sehr.

„Oma!“ rief es jetzt deutlich energischer. „Wir müssen jetzt los. Wir wollten uns doch heute dein neues Zuhause anschauen.“

Sie drehte sich um und erblickte ihre Enkelin Anna. „Ich bin doch zu Hause“, rief Emilie ihr entgegen und schaute wieder auf die nasse Straße. Gegenüber stand das Haus von Karl-Heinz und seiner Familie. Es stand immer da – ihr ganzes Leben lang stand es da, direkt neben der alten Tabakscheune. „Karl-Heinz parkt sein Auto ja schon wieder auf der Straße! Der will doch nur zeigen, dass er ein neues Auto hat, der alte Angeber!“, hörte sie ihren Georg meckern, während er zornig auf den neuen Opel Admiral zeigte, denn er fuhr nur einen alten Opel Kapitän.

„Wir müssen jetzt wirklich fahren, die warten ja schließlich schon auf dich.“, wurde Anna langsam ungeduldig. Die Koffer waren gepackt.

Emilie verstand das alles nicht. Wieso konnte sie nicht hier bleiben?

„Na wegen der Treppen! Du weißt doch, dass du das nicht mehr alleine schaffst. Wir haben das doch schon so oft besprochen. Du kannst nicht mehr hier bleiben, und ich kann mich nicht immer um dich kümmern.“

„Ich habe mich um dich gekümmert, als Du noch keine Treppen laufen konntest“, erwiderte Emilie schon fast etwas zornig.

„Wir müssen beide arbeiten, und nur mit der Sozialstation alleine reicht das einfach nicht mehr. Schau doch mal, da hast du doch alles, was du brauchst. Die kümmern sich um dich. Da ist immer jemand für dich da. Sieh das doch endlich ein. Ich kann nicht mehr!“

„Als ich früher gearbeitet hatte, war Deine Mama im Kindergarten. Nach der Arbeit habe ich sie dann wieder abgeholt und wir hatten einen schönen Tag zusammen. Warum geht das bei mir nicht?“, möchte Emilie wissen.

„Wir haben keine Tagespflege in Heddesheim, das weißt du doch. Und einen Platz im Betreuten Wohnen bekommen wir nicht. Ich kann nicht noch länger warten, bis was frei wird“, entgegnete ihr Anna. Sie hatte Mühe ihr schlechtes Gewissen zu verbergen. Sie versuchte noch immer, ihrer Oma das Pflegeheim schmackhaft zu machen – seit fast zwei Jahren.

„Und das Pflegeheim ist von Heddesheim nur 20 Minuten entfernt – da kann ich dich ganz oft besuchen.“, versicherte Anna.

In Heddesheim gab es leider keinen freien Pflegeplatz. Das Pflegeheim hatte eine lange Warteliste – aber warten konnte Anna nicht mehr. Nur sie kümmerte sich um ihre Oma. Ihre Mutter Gabriele „kann das nicht“. „Die bringt mich noch zum Wahnsinn“, hörte Anna ihre Mutter allzu oft sagen.

Anna wollte ihrer Oma beim Einsteigen helfen. „Ich bin doch keine alte Frau!“, empörte sich die erst 93-jährige Emilie, die sichtlich Probleme hatte, sich in das enge Auto zu zwängen.

Emilie schaute rüber zu ihrer Enkelin und erblickte den Blitz auf dem Lenkrad. „Ist das ein Opel?“

„Ja, wieso?“, fragte Anna.

Emilie lächelte zufrieden und schaute wieder aus dem Fenster.

Wenn sie zurück wären, musste sie unbedingt den Bürgersteig kehren, dachte sie noch, als sie ihr Haus beim Losfahren zum letzten Mal sah.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert